Gemeinsam abheben.


Dieser Artikel erschien am 24.12.2025 in der Nidwaldner, Obwaldner und Urner Zeitung.
Bild: Jana Avanzini

Iris liebt es, ganz vorn im Postauto zu sitzen, wenn es sich die gewundene Strasse den Berg hinauf kämpft, knarzt und ächzt in den steilen Kurven. Schon als Kind sass sie vorn. Einerseits, weil ihr so bei der Fahrt weniger schlecht wird, andererseits, weil sie dann zeitgleich mit dem Chauffeur um die Kurven blicken kann. Zwischen den verschneiten Bäumen hindurch die Lichtlein erkennt, noch bevor das Dorf dahinter auftaucht.

 

Ihre Grosseltern wohnen hier oben, seit sie denken kann. In ihrer Kindheit schon hat Iris jedes Jahr nicht nur Weihnachten, sondern immer auch mehrere Sommerwochen bei ihnen verbracht, hat mit ihren Cousins im Seeli das Schwimmen gelernt. Jetzt liegt eine richtige Schneedecke. Endlich mal wieder.

An der Bushaltestelle wartet bereits ihre Cousine mit dem Kleinen, eingepackt in dicke Mäntel. Sie umarmen sich lange und streiten sich wie jedes Mal darum, wer denn nun die Tasche mit den Geschenken tragen darf. Es ist immer schön, die paar Tage hier oben zu verbringen. Gutes Essen, Spaziergänge im Wald – bloss bei den Diskussionen ist Vorsicht geboten. Iris weiss, welche Themen sie nicht ansprechen sollte. Und bei welchen sie besser weghört. Es ist nicht einfach mit den unterschiedlichen politischen Haltungen. Mit den unterschiedlichen Arten, sich auszudrücken. Mit gewissen Dingen, die Iris besonders an ihrem Onkel aufregen – und umgekehrt ihn genauso an ihr. Iris weiss auch genau, welche abgedroschenen Witze über die Yogis seit jeher dazugehören.

Doch dieses Jahr ist es anders. Nach dem obligaten Fondue Chinoise, bei dem alle schon viel zu viel gegessen haben, wird neuerdings Lebkuchentiramisu serviert. Und neue Töne dazu.

 

 Mit gerunzelter Stirn hört Iris ihre Grosseltern und ihren Onkel über Maharishi Mahesh Yogi und seine Anhänger plaudern. Am Rande nur kommen dieses Mal die absurden Seiten zum Tragen. Grundsätzlich seien das ja wirklich gute Leute. Friedliebend, freundlich, naturverbunden und musikalisch. Getan haben sie nie jemandem was. Und nicht schlecht Steuern bezahlt.

Aber dann dreht sich unter dem geschmückten Baum plötzlich alles um die neuen Investoren. Auf die Züri-Schnorren habe dann schon niemand Lust, wenn sie da herumstolzieren und den Einheimischen die Welt erklären wollen. Und in wenigen Jahren wahrscheinlich gehe der ganze Komplex dann an die Katarer. Oder die Russen. Ausverkauf der Heimat. Der Wind hat gedreht. Nicht mehr über die Hippies wird sich geärgert und lustig gemacht. Über jene Hippies, die im Glauben, fliegen zu können, von den Terrassen der Hotelanlagen springen und unten auf die heiligen Wiesen der Eidgenossenschaft stürzen. Als Kind hatte Iris das wirklich geglaubt.

Der Kleine hat sich bisher intensiv für die Geschenke und die Kartonschachteln und nicht für die Diskussionen der Erwachsenen interessiert. Nun aber ist er begeistert. Aus der ganzen Welt sind Leute angereist? Stars. Und Clint Eastwood, sogar die Beatles waren Anhänger, erinnert sich Iris. Nun blickt der Kleine verwirrt. Das Wort hat er auch schon gehört, aber wer die Beatles waren, das ist noch nicht angekommen. Wie bekannt die waren? So wie BTS ungefähr, sagt die Cousine, und nun blicken am Tisch die Alten verwirrt.

 

 Es folgt der obligate Verdauungsspaziergang, auf welchem sich dieses Mal über koreanische Popkultur weitergebildet und ein Umweg über die alte Hotelanlage eingeschlagen wird.

Vor dem Eingangsbereich formt Iris mit ihren Händen einen Kreis und versucht, durch die Scheibe weiter ins Innere zu schauen, während der Kleine es ihr gleichtut. Nur wenig ist zu erkennen. Es lassen sich die roten Samtteppiche erahnen und die goldgelben Wände. Die glänzend gepolsterten Sessel, die Ausstellung zu Maharishis Errungenschaften und die ausladenden Plastikblumen-Arrangements jedoch sind verschwunden. Doch auch ohne die Reliquien bleibt die Geschichte des Hauses hängen und weiter fragt der Kleine die Runde aus, während sie durch die leeren, von Sternen und Lichterketten beleuchteten Strassen spazieren. Und weiter, während sie sich danach die Zähne putzen und weiter, während der Grossdädi in der Küche allen die Wärmeflaschen füllt.

Doch dann, bei einer Runde vom guten Kirsch wird es doch noch kritisch. Es entbrennt eine Diskussion darüber, was denn nun «gute Gäste» ausmacht. Und wer fremd ist oder eben nicht. Und natürlich bleiben am Ende Iris und ihr Onkel alleine am Tisch zurück, streitend einmal mehr über links und rechts und darüber, was man denn nun eigentlich noch sagen darf. Beide glauben genau zu wissen, wer in welchen Bildern denkt. Einig werden sich die beiden niemals werden. Und auf den Tisch und vor die Stirne werden jedes Jahr die Hände geschlagen. Bis endlich jemand aufsteht und das Fenster öffnet.

 

Am Morgen wacht Iris noch im Dunkel auf. Unter der warmen Decke stellt sie sich schlafend, während ihre Cousine und der Kleine an ihr vorbei in die Küche tapsen, flüsternd, weil der Kleine an gestern Abend anknüpfend mit weiteren Fragen Runden dreht. Wenige Minuten später klingt ein erster Beatles-Song durch die geschlossene Türe und Gelächter des Onkels, der wie immer schon vor allen anderen in der Küche seinen Kaffee trinkt und den Speckzopf in den Ofen schiebt. Es hat wieder zu schneien begonnen.
Der Grossdädi grinst verschlafen, als er und Iris sich vor der Küchentür entgegenkommen und gemeinsam zweimal durchatmen, bevor sie sich in den morgendlichen Trubel wagen.

«See how they fly – like Lucy in the sky» tönt nun John Lennons Stimme aus dem Lautsprecher – und wer einen Moment später draussen durch den Schnee am Haus von Iris Grosseltern vorbeistapft, wird durch das Fenster in eine kleine, ausgelassen tanzende Gesellschaft blicken. In ein harmonisches Bild.

Innen bleibt Iris einen Moment stehen und sieht sich um. Sieht diesem Haufen Menschen zu, wie sie vertraut tanzend und lachend sich gegenseitig unbeholfen herumwirbeln. Sie sehen sich nicht oft, leben in unterschiedlichen «Bubbles», wie man es mittlerweile sagt. Sie sind sich selten wirklich einig. Und doch halten sie daran fest, an diesen Tagen zusammenzugehören. Entscheiden sich immer wieder dafür, miteinander zu feiern, zu lachen, zu tanzen – auch zu streiten. Sich immer wieder gegenseitig anzuhören.