6986 Miglieglia


Alle Fotos: Roberto Ceccarelli

Dieser Artikel erschien im NZZ Folio vom 7. März 2022.

Die Mauern sind dick, aus grobem Stein. Über der Tür ist die Jahreszahl 1702 in den Rahmen gehauen, drinnen steht ein Kachelofen. Mein Vater ist in diesem Haus aufgewachsen, meine Nonna hat auf dem offenen Dachboden Marroni im Feuer geröstet. Ihre Vorfahren sind Schmuggler gewesen, und Miglieglia war ein Wallfahrtsort der Fruchtbarkeit. In diesem Tessiner Dorf lernte ich, wann man vor Wildschweinen Reissaus nimmt, in diesem Haus lernte ich schon als Kind, Wände zu verputzen. Ich zog mit meinem Vater Kabel durch die Wände, er erklärte mir, dass das gelbgrüne Kabel erdet, lange bevor ich wusste, was Elektrizität bedeutet. Heute gehört das Haus mir.

 

Meine Nonna und mein Nonno wohnten darin, in meinen ersten Erinnerungen. Die Räume schienen dunkel, die Möbel schwer, über dem offenen Kamin war die Decke schwarz vom Russ. Wir besuchten die beiden gelegentlich, bis mein Nonno starb und meine Nonna ins Altersheim zog. Nach ihrem Tod fuhren wir öfter in das kleine Dorf. Umbauen und Ferien machen gehörten nun untrennbar zusammen.

Vor acht Jahren, ich war 27, starb mein Vater. Er wurde 68 Jahre alt, zwei Monate vor seinem Tod hatte er noch Dünen in der marokkanischen Wüste bestiegen. Meine Mutter schlug das Erbe aus, damit das Haus mir gehören würde. Der Gedanke, es zu verkaufen, war damals für uns beide abwegig.


Erzähle ich Freundinnen und Freunden von meinem Erbe, beneiden sie mich. Sie malen sich ihr eigenes Ferienhäuschen in Tessiner Postkartenidylle aus. Ihren eigenen Flecken Erde in der Sonnenstube der Schweiz. Sie stellen sich vor, von der runzligen Nachbarin im Tessiner Dialekt gegrüsst zu werden, wenn sie an sonnigen Wochenenden ankommen, an Ostern, in den Sommerferien und im Winter, wenn der Schnee liegt. Sie stellen sich vor, in die Ferien zu fahren, unkompliziert, ohne Budget und Plan. In den hübschen Zimmern das kleine Gepäck abzustellen, die hellblauen Fensterläden zu öffnen und die Sonne hereinzulassen. Sie stellen sich vor, gleich danach ein Glas Merlot im Grotto zu trinken und mit Einheimischen einen Schwatz zu halten.


Wenn ich nach Synonymen für «Ferien machen» suche, spuckt die Suchmaschine eine ganze Reihe aus: wegfahren – sich neu beleben – auftanken – sich verjüngen – verschnaufen. Verjüngend oder belebend fühlten sich meine Tage im Tessin in den vergangenen Jahren selten an. Der Traum meiner Freunde vom Häuschen hat wenig mit meiner Realität gemein.


Unfreiwillig beim Hauseigentümerverband


Ich bin durch das Erbe nicht bloss zur Ferienhausbesitzerin geworden, sondern auch zur Vermieterin. Keine Rolle, die ich mir je gewünscht hatte. Das Haus ist in zwei Wohnungen aufgeteilt – eine für uns, eine zum Vermieten. Die paar Hundert Franken im Monat reichen, um Reparaturen am Haus zu bezahlen und die Zinsen der Hypothek. Wenn die Miete denn bezahlt wird.


Ein paar Jahre nachdem ich das Haus geerbt hatte, stand ein Mieterwechsel an. Ich war damals hochschwanger und froh, schnell jemanden für die Wohnung zu finden. Doch mit der neuen Person, die einzog, begannen anstrengende Jahre.

Ich erinnere mich an den Termin beim Friedensrichter. Am Tisch sitzen ein Anwalt für mich, einer für die Mieterin, der Friedensrichter, die Amtsschreiberin. Und meine Mutter zur Unterstützung. Auf dem Blatt, das vor mir liegt, stehen Dutzende italienische Begriffe, die ich nachgeschlagen habe – zu allen Themen, die aufkommen könnten. Dazu meine Argumente, meine Beweise für die unbezahlte Miete und die Weigerung, uns für die Heizungsreparatur in die Wohnung zu lassen. Ich bin im Recht, doch so einfach ist das nicht. Nach Stunden in diesem Raum, nach Geschrei und Stille unterschreibt die Mieterin, dass sie die Mieten bezahlen und bis Ende des Jahres ausgezogen sein wird.


Sie hat nie bezahlt. Doch sie ist ausgezogen, und das war Erlösung genug. Mir war egal, wie die Küche aussah, dass ein Wohnungsschlüssel fehlte und dass sie die Holzbank meiner Grosseltern vor dem Haus kaputtgemacht hatte. Sie war raus.


Die Wohnung sei «pulito», aber nicht «tedesco pulito», nicht «deutsch sauber», hatte die Mieterin noch geschrieben. Das sah so aus: Die Küche ölig, die Wände löchrig, der Innenhof und die Waschküche vermüllt. Holzstücke lagen herum, verbunden durch daumendicke, rostige Schrauben. Ich hätte ihr alles in Rechnung stellen können. Und dann darauf warten, das Geld niemals zu bekommen.Stattdessen nahmen wir die Arbeiten ein paar Wochen später selbst in Angriff. Es ist Samstag früh, als wir hinfahren. Wir putzen, malen, essen ein Sandwich im Stehen. Aus der Miete ist kein Geld mehr da, die Fassade und die Sanierung des Balkons haben die letzten Franken verschlungen. Erst gegen Mitternacht machen wir uns auf den Heimweg.


Ein paar Wochen später stehen die Besichtigungen für die Wohnung an. Bevor die Interessenten kommen, wische ich Katzenkacke vom Küchenboden. Dabei war die Tür zur Wohnung seit unserem Putztag verschlossen. In Gedanken sehe ich die ehemalige Mieterin nachts Fäkalien ihrer Haustiere in der Küche verteilen und lasse die Schlösser austauschen. Ich werde Mitglied des Hauseigen­tümerverbands, ärgere mich plötzlich über den Mieterschutz und deswegen über mich selbst.

Meine Mutter sagt, wenn du verkaufen willst, dann verkaufe.


Lauter Baustellen


Was nicht glücklich macht, das soll man loslassen, sage ich mir. In jedem Objekt verbirgt sich auch eine Aufforderung. Jede Vase will abgestaubt werden, jedes Fahrrad gepumpt, jedes Haus instand gehalten. Und der Aufwand für ein Haus auf der anderen Seite des Gotthards ist gross.


1702 erbaut. Nachdem mein Vater Anfang der 1990er seine Schwester ausgezahlt hatte, renovierte er das ganze Haus. Eigenhändig, über mehr als ein Jahrzehnt. Er war keiner, der herumsass. Gab es etwas zu tun, packte er es an. Bilder aus meiner Kindheit und Jugend erzählen davon: Mein Vater oben auf der Leiter, in den Händen den Eimer voll weisser Farbe und den breiten Pinsel. Mein Vater im Bett liegend, während ihm der Arzt die Spritze in den Rücken setzt, Hexenschuss. Mein Vater, wie er Schubkarren voller Schutt über schmale Holzbretter durch die Gassen balanciert, hundert, vielleicht auch tausend Mal, die Schultern braun gebrannt, ein Küchentuch um den Kopf gebunden. Immer wieder muss meine Mutter ihn ans Essen erinnern. Sie und ich halfen manchmal mit. Aber oft machten wir Ausflüge, badeten und stöberten in Brockenhäusern, während er schuftete. Er baute so viel selbst, wie er konnte, er konnte viel, und wenn er etwas nicht konnte, brachte er es sich bei. Den Rest übernahmen lokale Handwerker, ehemalige Schulfreunde von ihm. Die Räume wurden über die Jahre grösser, das düstere Haus wurde heller. Es wurde seins. Unseres.

 

Als Kind und als Jugendliche verbrachte ich alle Feiertage in Miglieglia. Das Osternest war im Innenhof versteckt oder im Keller, an dessen Decke schimmelnde Spinnen hingen, oder hinter der alten Kirche oder im kalten Kachelofen. An Weihnachten konnte man kaum auf diesem Ofen sitzen – nach wenigen Minuten glühte der Hintern. Wir kochten Festessen, wuschen singend und tanzend ab, den Christbaum schlugen wir selbst.

 

Wir strickten, malten, lasen, Mutter und ich puzzelten nächtelang. Ich kannte die Wälder, die Berge, die Leute. In der Pizzeria nannte man mich «Capo», im Lädeli bekam ich Süssholz geschenkt. Es gab Waldfeste, und der Migros-Wagen hielt im Dorf. War mein Grosi mit uns zu Besuch, fragte sie meine Nonna nach der Gesundheit, und meine Nonna klagte auf hochitalienisch von ihrem Rückenleiden – die beiden verstanden sich. Ich las die «Schlümpfe», dann die «Bravo», dann das «Geo». Die Hefte sind alle noch da.

 


Ich hänge an den Gegenständen, aber auch am Haus und seinen einzelnen Teilen. An der Holztreppe mit den Krallenspuren unserer Katze, die jeweils auf dem Armaturenbrett nach Miglieglia mitfuhr. Am Kronleuchter, der nie so baumelt, wie er sollte. An den dünnen Stellen der Wände, die die Schmuggler einschlugen, wenn Carabinieri kamen, um ins Nachbarhaus zu flüchten. All diese Dinge haben einen sentimentalen Wert. Sie erzählen Geschichten, erinnern mich an meinen Vater, an meine und seine Kindheit. Doch wie sehr machen sie mich aus, wie stark brauche ich sie, um mich zu erinnern?


Es fühlt sich übertrieben dramatisch an: Die Vorstellung, alles loszulassen. Nicht die «Bravo»-Hefte, das Holz und die Steine. In diesem Haus lebten und litten meine Vorfahren, sie sind darin geboren worden und gestorben. Ich habe Angst, zu vergessen. Und Angst, einen Teil meiner Identität zu verlieren. Denn noch immer gehöre ich im Ort ein bisschen dazu. Alle sind meine Cousins und Cousinen – auch wenn wir keine Ahnung haben, über wie viele Ecken die Verwandtschaft mittlerweile geht. Würde ich das Haus verkaufen, würden diese Beziehungen noch schwächer werden. Ich habe Angst vor der Reue.


In den sieben Jahren, in denen ich das Haus besitze, ging ich durch mehrere Phasen. Zu Beginn fuhren wir kaum hin. Ich liess alles an seinem Platz, traute mich nicht, auch nur eines der Bilder auszuwechseln, die mein Vater gemalt und aufgehängt hatte. Erst nach ein paar Jahren begann ich, einige Dinge zu verändern, zu streichen, einzurichten. Eine Weile lang fuhren wir wieder öfter hin – weil wir ein Projekt hatten und danach die Freude am Ergebnis. Dann kam der Covid-Frühling 2020 und ein Brief von der Gemeinde: Wir sollten das Dorf zu Ostern bitte nicht besuchen. Zum ersten Mal fuhren wir an diesem Wochenende nicht hin. Es fühlte sich seltsam an, nicht dort zu sein, denn das war immer unser Fixpunkt: Ostern im Tessin.

Weihnachten hingegen verbringen wir schon länger nicht mehr in Miglieglia. Zu gross ist die Familie auf der einen Seite geworden, zu lose die Beziehung zu den Cousinen auf der anderen. Auch zu Silvester sind wir dieses Mal nicht runter. Doch je weniger wir das Haus nutzen, desto grösser wird das schlechte Gewissen.

 

Betrete ich das Haus, sehe ich Baustellen. Ich sehe das durchgesessene Sofa, die losen Leisten, den feuchten Keller. Ich sehe die spröden Fensterrahmen, die bröckelnden Fugen am Kachelofen. Die elektrischen Leitungen sind veraltet, die Fassade im Innenhof muss renoviert werden, das Dachfenster erneuert, der Öltank im Keller entsorgt; dort rostet auch noch der Boiler. Ausserdem müsste ich mit dem neuen Besitzer des Hauses gegenüber den Zugang zum Innenhof regeln. Aber ich kann ihn nicht finden, über die E-Mail-Adresse und die Telefonnummer, die mir die Gemeinde gegeben hat, erreiche ich ihn nicht. Mehrere Ordner sollten geführt werden, Hypothek, Investitionen, die Abrechnungen für die Mieterin. Rechnungen müssen bezahlt, Stromzähler abgelesen, die Gemeinde muss informiert werden – selbstverständlich auf italienisch.


Meine Mutter sagt, wenn du verkaufen willst, dann verkaufe.


Was würde mein Vater wollen?


Unser letzter Besuch im Haus liegt ein paar Monate zurück: es war ein Tagesausflug und ein Albtraum. Natürlich gab es wieder etwas zu tun. Ein neues Sofa soll in die Wohnung. Doch in den obersten Stock, wo das alte steht, führt bloss eine schmale Wendeltreppe, und die elektrische Seilwinde in den Innenhof funktioniert seit Jahren nicht mehr. Zu viert ziehen wir das Sofa mit einem Seil hinauf. Eine Freundin stemmt es aus dem Innenhof nach oben, ich renne vom unteren Stock in den mittleren, um das Seil zu übernehmen, mein Partner und sein Vater hasten über die Wendeltreppe in den obersten Stock, um von dort zu ziehen und das Sofa über die Balkonbrüstung zu wuchten. Im Vorbeirennen versuche ich mein schreiendes Kind zu beruhigen.


Bei der Abfahrt zeige ich einem ehemaligen Freund meines Vaters wütend den Mittelfinger. Er hat sich geweigert, zehn Meter zurückzufahren, damit wir mit unserem kleinen Lastwagen, der inzwischen mit Abfall gefüllt ist, vorwärts aus der Gasse kommen. Ein Mini-Manöver, das hier alle immer machen – nur er dieses eine Mal nicht. Mein Kind schreit schon wieder, mein Partner flucht und zirkelt minutenlang rückwärts zwischen schrägen Mauern. Am liebsten würde ich mich auf den Boden setzen und heulen.

Ein Blick aufs Handy zeigt: Am Samstagnachmittag ist in der Nähe keine Entsorgungsstelle geöffnet. Wir könnten es rechtzeitig zu jener in Nidwalden schaffen, die auf dem Weg zurück liegt. Doch natürlich landen wir bei Quinto im Stau. Also über den Gotthard – und wieder Stau. Nervös checken wir die Zeit, fahren am Tempolimit, um 15.59 Uhr rollen wir auf das Tor der Entsorgungsstelle zu. Es schliesst sich direkt vor uns.


Unser kleiner Lastwagen, fürs Wochenende geliehen, ist voll mit einer kaputten Waschmaschinen, einem Tumbler, dem alten Sofa und Müll aus dem Innenhof. Doch der junge Herr hat in 30 Sekunden Feierabend und sieht nicht ein, mit einer Minute seiner Zeit unser Leiden zu verringern. Ich fluche, während wir den ganzen Mist in der Garage eines Verwandten deponieren, um es in der kommenden Woche zu entsorgen. Ich fluche viel und in wüsten Worten, aber immerhin auf italienisch.


Meine Mutter sagt, wenn du verkaufen willst, dann verkaufe.


Vielleicht würde mich das glücklicher machen. Wir könnten mit dem Geld etwas in der Deutschschweiz kaufen, eine Wohnung. Doch noch bin ich nicht bereit dazu. Noch suche ich nach anderen Lösungen: Ich könnte häufiger Leute einladen. Wir könnten wieder gemeinsame Weihnachten dort feiern. Ich könnte meine Cousinen das nächste Mal besuchen, anstatt verschämt vorbeizufahren.


Wenn das Haus nicht mehr meines ist, wird es keinen Grund mehr geben, nach Miglieglia zu reisen. Die Bindung zu diesem Ort und den Menschen würde gekappt. Bin ich es meinen Vorfahren nicht schuldig, sie aufrechtzuerhalten? Und meinem Kind und seinen Kindern, die es vielleicht eines Tages hat? Ich frage meine Mutter, was mein Vater gewollt hätte. Sie sagt, er wäre wohl traurig, wenn das alles verloren ginge. Aber wahrscheinlich würde er sagen: Wenn du verkaufen willst, dann verkaufe.