Ellen Ringier in ihrem Büro in Zürich. (Bild: Vera Hartmann)
Ellen Ringier war eine Erscheinung. Eine grosse Frau mit grossen Ohrringen und grauem Haar, mit schnellem Schritt und einem einnehmenden Lachen. 2018 Jahren
traf ich sie erstmals – für 50 Fragen. Danach noch ein paar Male, als ich für das Magazin ihrer Stiftung schrieb und in der Altersresidenz, in der ihre Mutter lebte. Sie war eine Frau, die mich
von der ersten Begegnung an überraschte und beeindruckte.
Hier das Interview, das im April 2018 bei zentralplus erschien.
1. Sie haben in einem Interview mal Rolf Bloch zitiert: Man muss sich seine Privilegien verdienen! Was meinen Sie damit?
Ellen Ringier: Wenn man das Glück hat, in einem Land geboren zu werden wie der Schweiz, in eine Familie geboren zu werden, die einem eine erstklassige Jugend und eine finanzielle Sicherheit gibt;
Das kann man nicht einfach nur so annehmen.
2. Reichtum verpflichtet?
Das sowieso. Nicht nur Reichtum, auch Eigentum. Man soll damit so umgehen, dass auch andere etwas davon haben. Es nicht ausschlachten, sondern die Gesellschaft teilhaben lassen.
3. Sie sammeln ständig Geld für wohltätige Zwecke. Sie wurden auch schon «penetrantes Bettelweib» genannt. Woher kommt dieses Engagement?
Ich bin nicht religiös geprägt, dafür durch einen ganzen Haufen humanistischer Literatur, die besonders meine Mutter, die Sprachen an der London University studiert hatte, in unser Leben brachte.
Und damit kamen die Fragen: Weshalb tue ich etwas? Wem dient es? Was will ich zurücklassen, wenn ich sterbe? Und die Antwort war immer – natürlich aus einer privilegierten Stellung heraus –,
nicht reich sterben zu wollen.
4. Glauben Sie an Gott?
Ich kann keinen Gott mit Namen nennen. Aber ich glaube an etwas, das Anfang und Ende ist.
5. Wie spendabel sind die gutbetuchten Schweizer?
Ich nehme wahr, dass viele vermögende Familien einen wohltätigen Zweck verfolgen. Aber ich beobachte auch, dass ein grosser Teil der sehr gut Verdienenden viel mehr machen könnte. Ich nehme an,
viele Multimillionäre spenden an Weihnachten 1000 Franken ans Rote Kreuz. Aber Sie und ich wissen, diese Personen könnten auch 10’000 oder 100’000 spenden.
6. Wie solidarisch nehmen Sie unsere Gesellschaft wahr?
Der Zusammenhalt in der Schweiz ist nicht sehr gross. Wir leben individualistisch und scheinen uns gegenseitig «nichts anzugehen». Man mischt sich nicht ein, und redet schon gar nicht über
Unglück, Scheitern oder Misserfolg. Das ist bei uns extrem stigmatisiert.
7. Sie haben die Stiftung Elternsein und das Elternmagazin «Fritz und Fränzi» aufgebaut. Darin werden ohne Umschweife Tabus angesprochen. Welche nehmen Sie in der Schweiz im Bereich
Familie stark wahr?
Die «dysfunktionale Familie» wird immer noch tabuisiert. Wenn beispielsweise Kinder nach Hause kommen und es weder frische Wäsche noch Essen im Haus hat, das Schwesterchen gebadet werden muss,
der Vater auf Geschäftsreise ist und die Mutter es wegen einer Depression nicht aus dem Bett geschafft hat. Der Druck, der dann auf den Kindern lastet, die Überforderung der Eltern – es bleibt
alles geheim. Man teilt Unglück nicht. Wir nennen das «Daheimnisse».
8. Warum haben Sie sich gerade den Familien angenommen?
Weil es in der DNA des Schweizers liegt, dass familiäre Probleme totgeschwiegen werden. Und der Staat hat sich schon gar nicht in die Familie einzumischen. Doch heute, wo Vereinbarkeit von von
Beruf und Familie so match-entscheidend ist, braucht es in meinen Augen eine staatliche Regulierung – und dazu ein Familienministerium. Damit das Thema nicht in der Hand politischer Parteien zum
Spielball wird und sich die eine sehr konservative Partei – Sie wissen, welche ich meine – mit Händen und Füssen gegen diese Vereinbarkeit wehren kann. Denn Chancengleichheit der Eltern ist der
Boden für die Chancengleichheit der Kinder.
9. Wenn Sie Familienministerin wären …
… würde ich flächendeckend in der ganzen Schweiz bis in den hintersten Chrachen Ganztagesschulen einführen. Bis ins Calancatal – um Alt-Bundesrat Schlumpf zu zitieren. (Lacht.)
10. Sind Sie eine Linke?
Ich wurde einmal eine Kryptokommunistin genannt. Das ist sicher ganz falsch. Ich gehöre auch keiner Partei an. Aber ich glaube an einen sozialen Ausgleich.
11. Wie wichtig ist Ihnen die berufliche Unabhängigkeit vom Geld ihres Mannes?
Sehr wichtig. Ich habe immer sehr gut gelebt, auf Kosten meines Mannes, aber meine Projekte habe ich stets selbst durchgezogen und gefundraist.
12. Wie oft waren Sie trotzdem «die Frau von»?
Heute weniger, aber als ich jung war, hiess es meist «Frau Doktor Michael Ringier». Dabei war ich der Doktor. (Lacht.) Ich habe aber auch nie dem Bild der Unternehmersgattin entsprochen. Ich
hatte das auch nie gewollt. Doch mein naiver Wunsch, nicht «die Frau von» zu werden, war bei dem Namen zum Scheitern verurteilt.
13. Die Verlegergattin, die Goldküstengattin, die dem Bild jedoch überhaupt nicht entspricht. Was halten Sie von diesen Titeln?
Ich lebe mit diesen Stereotypen. Ändern kann ich daran nichts. Ich habe immer gearbeitet und mich nie so benommen, wie man meint, dass sich eine Unternehmersgattin zu benehmen hat. Das war nie
mein Ding.
14. Ihnen wird ein rasantes Temperament nachgesagt und ein starkes Gerechtigkeitsempfinden. Eine scheinbar schwierige Kombination, wenn man sich in der High Society bewegt?
Für die anderen. Ja. Für die anderen. (Lacht.)
15. Eine Frage, die Sie bestimmt öfters schon gehört haben: Hatten Sie Angst, Ihr Geld könnte Ihre beiden Töchter verderben?
Ja. Definitiv. Ich habe auch sehr darauf geachtet, sie nicht zu verwöhnen. Meine Töchter sind jetzt 27 und 25 Jahre alt und im Sinne von Luxus sehr bescheiden. Sie haben noch nie etwas wie eine
Prada-Tasche gekauft. Im Gegenteil. Die eine Tochter liebt alles, was Vintage ist – alt und getragen soll es sein. Aber das Bewusstsein, dass alles da ist, das haben sie durchaus. Es wird viel
gekauft und weggeschmissen – im Haushaltsbereich.
Diese Leichtigkeit im Umgang mit alltäglichen Dingen ärgert mich oft. Ich drucke immer doppelseitig, brauche jeden Papierfetzen nochmals auf der anderen Seite. So wurde ich erzogen. Denn wenn man
sich überlegt, wie ganze Wälder für Geschenkpapier und Verpackung von tonnenweise Online-Bestellungen abgeholzt werden, dann ist klar: So kann es nicht weitergehen. Aber die jüngere Generation
muss das wohl noch lernen.
16. Wie wichtig ist Ihnen der Konsum von Luxus? Von Designerkleidern und anderen schönen Dingen?
Ich bin nicht frei davon. Und es ist wahr, dass ich mir heute mehr kaufe als früher. Das hat aber teilweise auch mit meinem Selbstwertgefühl zu tun, das abgenommen hat, seit ich zugenommen habe.
Es hat also etwas Kompensatorisches. Zudem ist es eine Altersfrage. Mit T-Shirt und Jeans sieht man mit über 60 nicht mehr adrett aus. Je älter man ist, desto mehr muss man auf sich selbst
schauen. Ich will einfach auf keinen Fall eine alte, schmuddelige Frau werden.
17. Ihre ältere Tochter soll Ihnen den Vorwurf der Dekadenz gemacht haben: «Lebt ihr eigentlich, oder konsumiert ihr nur noch?»
Ja, das hat sie. Dieser Vorwurf hatte jedoch vor allem mit unserem Umzug von unserem alten, verwinkelten Haus in das neue zu tun, das ihr viel zu gross und übertrieben vorkam und dekadent. Die
musste sich damals in der Pubertät von dem Wohlstand abgrenzen, ausbrechen, lebte in einer WG, ging trampen.
18. Hatten Sie das auch, dieses Ausbrechen?
In einer anderen Form. Auf einer politischen Ebene. Ich habe mich intensiv mit Fragen zur Chancengleichheit beschäftigt. Darf man erben? Ist das nicht unheimlich ungerecht? Wie darf ich das
annehmen, dass ich dermassen auf der goldenen Seite des Lebens stehe? Besonders mit meinem Grossvater, der Bankier war, habe ich viel darüber diskutiert. Sein Leitsatz war: «All life is about: to
give other people a chance.»
19. Wer sind die Helden Ihrer Kindheit?
Frauen. Ich habe sehr viel und sehr gerne Frauenbiografien von ungewöhnlichen und emanzipierten Frauen gelesen: von Christina von
Schweden, Marie Curie, Golda Meir. Denn das damalige reale Frauenbild im Alltag hatte überhaupt nichts mit dem Bild meiner weltgewandten Mutter zu tun, das ich mir auch für mich als Frau
wünschte. Ich fand aber auch Audrey Hepburn toll. Sie war damals viel in Luzern unterwegs – versucht inkognito mit ihrem Hermestüchlein um den Kopf gelegt. Ich fand sie so elegant und habe sie
sehr bewundert. Sie war das pure Gegenteil von mir. Ich war gross und sportlich, sie klein und zart.
20. Weshalb haben Sie Jura studiert?
Ich wollte Medizin studieren, das entsprach meinem Helferbedürfnis. Ich wollte ein zweiter Albert Schweizer werden, sah mich schon im Dschungel.
Doch mein Vater sagte: «Du kannst alles studieren, aber ein Medizinstudium finanzier› ich dir nicht.» Und damals hat man nicht geantwortet: «Du kannst mich mal.» Sondern: «In Ordnung, Papi, wenn
du dieser Meinung bist, was fändest du denn gut?» Und er meinte, für jemanden, der keine besonderen Talente hat, sei die erweitere Allgemeinbildung, die das Jus-Studium bringt, genau das
Richtige.
21. Eine harte Aussage.
Er hatte sich in seinem Leben alles hart erarbeitet und hat uns dementsprechend streng erzogen. Er hatte das Gefühl, dass wir es zu einfach hatten. Disziplin
war sehr wichtig. Und man sollte nicht zu sehr an sich denken. (Sie hält ihr Gesicht in die Sonne und schliesst die Augen.)
22. Haben Sie gelernt, auch an sich zu denken?
Nein. Das fehlt mir. Ich schaue zu wenig auf mich. Auch nein zu sagen kostet mich enorm viel Kraft. Und wenn mich der Arzt zum
Beispiel fragt, ob ich Kopfschmerzen hatte – ich wüsste es nicht. Ich hätte es gar nicht gemerkt oder wäre darüber hinweggegangen. Das zahlt sich jetzt im Alter negativ aus. Ich könnte auch
sagen: Ich liebe mich zu wenig. Es gibt ja Leute, die sagen, wer sich selbst nicht liebt, kann auch andere nicht lieben. Ich sehe das anders: Ich brauche den grössten Teil meiner Kraft für
andere.
23. Ihr Vater war Pelzgrosshändler. Sie wurden vor ein paar Jahren heftig wegen Ihrer Aussage, Ihr Vater habe unter der undifferenzierten Anti-Pelz-Kampagne gelitten, kritisiert. Würden Sie das
heute anders formulieren?
Nein. Ich würde es genau so wieder sagen. Mein Vater war ein geradliniger und uneigennütziger Mann. Er war aber vor allem ein Importeur, der seine
Lieferanten streng überprüft hat. Er verkaufte nur hochklassigen Pelz. Dazu muss man betonen: Früher war Pelz ein Luxusobjekt. Man leistete sich entweder ein Boot, eine Ferienreise oder einen
Pelz. Das ist der Unterschied zu heute. Wenn plötzlich an jeder billigen Warenhausjacke Pelz dran ist, dann ist klar, dass dieser nur zu miserablen Bedingungen gewonnen wird. Und es ist so, dass
mein Vater stark darunter gelitten hat, in denselben Topf mit diesen Schmuddelleuten und ihren jämmerlichen, brutalen Farmen geworfen zu werden.
24. Wovor fürchten Sie sich?
Ich habe wenig Angst vor Dingen, die mich selbst betreffen. Ich traue mir zu, mich dem Leben zu stellen, egal, was es bringt. Aber ich bange, dass
meinem Mann, meinen Kindern, meinen Enkeln kein Unglück zustösst. Ich bin so hilflos, wenn es um die geht, die mir am nächsten stehen.
25. Was halten Sie von einer Frauenquote?
Eigentlich nichts. Aber ich glaube, es bleibt uns nichts anderes übrig.
26. Wann werden Sie aufhören zu arbeiten?
Sobald jemand anderes meinen lausigen Job übernimmt, das Geld für die Stiftung aufzutreiben. Sobald mir das jemand abnimmt, hör ich auf der
Stelle auf. (Lacht.)
27. Was steht auf Ihrem Nachttisch?
Zwei Lampen. Das Telefon, Fotos meiner Mutter und meinen Schwestern, meiner Töchtern und meinem Mann. Und Erinnerungsstücke, wie ein kleiner
goldener Elefant, da ich Elefanten sammle. Dazu Block und Bleistift.
28. Sie sammeln Elefanten? Hat das einen Hintergrund?
Meine Mutter hat mich immer «Elfi» genannt. Eine Abkürzung für Trampeltier. Ich war die Grösste in der Klasse, sehr schlaksig
und ich habe immer riesige Schritte gemacht. Meine Eltern fanden deshalb, ich würde mich äusserst trampelig für eine junge Dame bewegen. Doch es gibt auch eine wüste Geschichte. Nach einer
Vorführung bei der schicken Ballettlehrerin sagte diese zu meiner Mutter, ihre Tochter sei im Zirkus besser aufgehoben als im Ballett.
29. Damit hat sich die Frage, ob Sie eine gute Tänzerin sind, offenbar erledigt?
Ich glaube, ich wäre keine schlechte Tänzerin. Ich glaube auch, dass ich keine schlechte Stimme
hätte und nicht unrhythmisch bin. Und doch hat man mir immer gesagt: «Bitte, hör auf zu singen, hör auf Blockflöte zu spielen!» Mein familiäres Umfeld war diesbezüglich sehr
anspruchsvoll.
30. Doch auch Ihre Ballettlehrerin zeigte sich wenig begeistert?
Es scheint ein Muster zu sein, dass immer wieder Leute das Gefühl haben, dass sie mir eins auf den Deckel geben
müssen – vielleicht, weil sie sich von mir herausgefordert fühlen. Es gibt diese Leute. Und es gibt andere, denen immer geholfen wird, weil sie sich hilflos und schwächlich zeigen. Ich hab wohl
die falsche Strategie gewählt. (Lacht.)
31. Womit kann man Sie so richtig ärgern?
Unaufrichtigkeit. Darauf bin ich allergisch. Und gegen das ständige «Profitieren-Wollen». Grosszügigkeit ist nicht nur eine materielle
Geschichte. Grosszügigkeit ist auch eine Sache des Kopfs und des Herzens.
32. Mit welchen Worten fluchen Sie?
Fluchen? (Sie macht eine lange Pause, überlegt.) Ich fluche nicht. Nein. Ich glaube wirklich, dass ich nicht fluche.
33. Womit kann man Sie zum Lachen bringen?
Selbstverständlich mit guten Witzen. Ich liebe den Sprachwitz der amerikanischen Satiriker wie Stephen Colbert. Da lach ich mich
krumm. Und wenn jemand so schamlos lügt, dass es grauenhaft offensichtlich ist.
34. Würden Sie uns einen Witz erzählen?
(Sie lacht und schüttelt vehement den Kopf.) Nein, bitte. Ich verweigere mich. Als ich jung war, liebte ich es, Witze zu erzählen, und mein
Mann schaute mich immer an, ohne mit der Wimper zu zucken. Das hat mich dermassen irritiert, dass ich immer die Pointen vorweggenommen habe. Nein. Damit habe ich vor über dreissig Jahren
aufgehört.
35. Bier oder Wein?
Wein.
36. Sind Sie eine gute Köchin?
(Die Augenbrauen heben sich, sie schaut äusserst ernst.) Miserabel. Probieren Sie es auf keinen Fall aus.
37. Hatten Sie keine Bedenken, in eine derart reiche Familie einzuheiraten?
Das war für mich kein Thema. Ich habe jedoch gezögert, weil meine Familie von mir erwartet hatte, dass
ich im Ausland Karriere machen würde. Gerade als ich in Köln beruflich richtig gut dastand, kam einer vom Verwaltungsrat der Ringier, hat sich breitbeinig hingehockt und zu meinem Mann gesagt:
«Ich wurde geschickt, Sie nach hause zu holen.» Und da hat keiner gefragt: «Ist das Recht für Sie, Frau Ringier?» Das hatte ich geahnt und mir wurde zu diesem Zeitpunkt klar, dass ich meine
persönlichen Ambitionen künftig würde zurückstellen müssen. Aber dafür habe ich den liebenswertesten, grosszügigsten Mann geheiratet, der mir statt Blumen selbstgeschriebene Sentenzen
schenkte.
38. Ihr Mann scheint sehr sportlich zu sein. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Ich war nie so sportlich wie er – was die Resultate betrifft. Aber ich glaube, es gibt keine Sportart, die
ich nicht gemacht habe. Ich bin mit Max Eiselin Schwierigkeitsgrad 6 geklettert, bin Skirennen gefahren, habe Tennis gespielt und Golf, bin geschwommen, geritten …
39. Wann sind Sie in Luzern?
Jede Woche donnerstags besuche ich meine Mutter. Und das Lucerne Festival gehört jedes Jahr fest dazu.
40. Was vermissen Sie an Luzern?
Die gewisse Beschaulichkeit, Behaglichkeit, Langsamkeit. Die Lebensqualität in Zürich und Luzern unterscheidet sich kaum. Aber Luzern ist
entschleunigter.
41. Und was vermissen Sie überhaupt nicht?
Das ständige gegenseitige Beobachten und böse Reden. «Hecheln» nannte man das damals in den 50er- und 60er-Jahren. Ich erinnere mich
besonders an eine Geschichte, als der Nachbar zum Vater sagte: «Hast du gesehen, der Sowieso hat ein neues Auto gekauft. Der hätte besser seiner Frau ein neues Gebiss gekauft.» Das habe ich nie
vergessen. Wie kann man sowas Böses sagen?
42. Und das ist in Zürich anders?
Ich glaube, Zürich ist zu gross dafür. Hier gilt: Leben und leben lassen.
43. Wenn Sie in Luzern sind, welche Orte besuchen Sie am liebsten?
Unser Treffpunkt war immer das Mövenpick am Grendel. Das ist leider Geschichte. Ich bin aber auch gerne an der
Reuss und in der Altstadt. Dort kommt ein Heimatgefühl auf, weil vieles noch so aussieht wie früher. Ich mag es auch, dem bunten Volk zuzuschauen. Das Gewusel hat mir immer gefallen, besonders
mit den vielen Touristen.
44. Besuchen Sie die hiesige Fasnacht?
Schon ewig nicht mehr.
45. Ihren Mann haben Sie an der Luzerner Fasnacht «aufgerissen». Wie kam das?
Ich war damals in einer Studenten-Guuggenmusik. «Vögeli flüg uf», hiess die – glaube ich. Da waren
einige richtig gute Musiker dabei und eben meine Kollegin und ich. Uns beiden wurden daher riesige, schwere Tschinellen zugeteilt. Dazu der viele Alkohol – da haben wir uns morgens um vier völlig
am Ende ins überfüllte Mövenpick gequetscht. Ich habe mir einen Hocker gesucht und mich wahllos an einen Tisch dazugesetzt. Und da sass er, mein zukünftiger Mann!
46. Sie sind 42 Jahre verheiratet. Was ist Ihr Erfolgsrezept?
Wie alles im Leben, kommt nichts von alleine. An einer Ehe muss man arbeiten. Und wer die Erfüllung des eigenen
Glücks vom Partner abhängig macht, muss erst gar nicht zum Standesamt fahren.
47. Sie sind beide extrem beschäftigt. Wie oft sehen Sie sich tatsächlich?
Wir machen meistens gemeinsam Ferien. Unter der Woche sagen wir öfters etwas ab, damit wir einen Abend
gemeinsam verbringen können – ohne Veranstaltungen und Gesellschaft.
48. Was waren die grössten Streitpunkte in der Ehe?
Die Erziehung der Kinder. Unsere Töchter konnten ihn wunderbar um den Finger wickeln. Ich war dann immer die Hexe vom
Dienst.
49. Wie würde Ihr Mann Sie beschreiben?
Er würde positive Dinge finden und auch negative. Die negativen fallen mir natürlich zuerst ein: Er würde sagen, ich sei eine Besserwisserin.
Obwohl ich das überhaupt nicht bin. Das versteht er völlig falsch.
50. Ihr Mann hat das Wort.
(Lacht.) Er würde mich eine Besserwisserin nennen, zuverlässig, eine Macherin. Wenn etwas am Boden liegt zum Beispiel, dann hab ich das immer schneller
aufgehoben, und das hat nichts mit seiner Grösse zu tun. Sondern mit meinem Entschluss, sofort zu handeln. Er ist bedächtiger. Er würde sagen, dass ich eine treue, kameradschaftliche Schützenfrau
bin, wie seine Mutter. Ich glaube, das reicht. Man muss ja nicht alles auf den Tisch legen.
Ellen Ringier ist mit zwei Schwestern in Luzern aufgewachsen. Ihr Vater war Kaufmann und Kunstsammler. 1976 heiratete sie den Verleger Michael Ringier. Das Paar
lebte während sieben Jahren in Deutschland. 1980 schloss Ellen Ringier ihr Jurastudium mit dem Doktorexamen ab. Seit 1990 setzt sie sich ehrenamtlich für verschiedene kulturelle und soziale
Organisationen und Aufgaben ein, im Jahr 2001 gründete sie die Stiftung Elternsein.